Einladung für alle Welt

Andacht zum 10. Sonntag nach Trinitatis
Eine Synagoge inmitten einer großen Stadt.

Der Autor

Ein Mann mit Brille mit dunkler Fassung, hoher Stirn und kurzen Haaren. Er trägt ein hellblaues Hemd und ein Jackett.
Bild: privat
Marc Wischnowsky

Dr. Marc Wischnowsky ist Superintendent im Kirchenkreis Stade.

Heute ist „Israelsonntag“ – da liegt das gleiche Missverständnis nahe wie beim Muttertag: als ginge es darum, einmal im Jahr die christliche Gemeinde an ihre jüdischen Wurzeln zu erinnern, um diese dann den Rest des Jahres getrost zu vergessen. Dabei geht es doch eigentlich darum, dass wir uns jeden Sonntag bewusst machen, was uns mit unseren jüdischen Glaubensgeschwistern verbindet.

Im Urlaub hatte ich die Freude, die tschechische Handelsstadt Pilsen zu besuchen. Die ist nicht nur berühmt für eine Bierbraumethode, sondern auch für eine der größten jüdischen Synagogen der Welt. Erbaut 1888-1893 überstand sie zwei Kriege und sogar die Pogrome der Nazizeit – allerdings zynischerweise nur, weil sie militärisch genutzt wurde.

Nach dem Krieg ging sie an die jüdische Gemeinde zurück. Allerdings hatten nur wenige der ursprünglich 2.600 Mitglieder Mord, Verfolgung und Vertreibung überlebt – von denen wiederum viele emigrierten. Heute zählen zur jüdischen Gemeinde in Pilsen 100 Menschen.

Das Gotteshaus verfiel unter dem kommunistischen Regime, wurde aber in den 90ern umfangreich restauriert und 1998 neu geweiht. Es dient als Gottesdienstraum und wird für Ausstellungen und Konzerte genutzt. Weitere Renovierungen der letzten Jahre lassen die Synagoge nun in neuem Glanz erstrahlen. So legt sie Zeugnis ab für eine sich wieder entwickelnde jüdische Kultur, wie sie in der historischen Landschaft Böhmens lange selbstverständlich war.

Mich hat ein Detail fasziniert. Im Eingang wird man von einer Tafel begrüßt: „Mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker.“ Ein Vers aus dem Jesajabuch – und der sprach mich unmittelbar an, denn hier wird eine auf dem Hintergrund der geschilderten Historie erstaunlich weite Einladung ausgesprochen: für alle Welt. 

Es ist der Glaube an diese Weite der göttlichen Einladung, die einst die Menschen motivierte, die mit Jesus zogen. Und sie hat auch Paulus und all die anderen Männer und Frauen angetrieben, die ihren Glauben an Jesus als den Messias und Retter der Welt zu allen Menschen getragen haben. Übrigens ohne dabei daran zu zweifeln, dass Israel Gottes Volk bleibt.

Mich hat in der Synagoge in Pilsen – neben der Scham über die in der christlichen Theologie immer wieder betriebene antisemitische Auslegung unserer Glaubensurkunden – auch eine tiefe Dankbarkeit erfüllt. Es ist an uns, sich von diesem Gedanken Jesajas einer universalen, grenzüberschreitenden Einladung inspirieren zu lassen, die vom Judentum aus das Christentum prägte: alle Welt in meinem Haus zuhause. Mit dieser Zusage wird jeder Tag zum Israelsonntag.

Der Autor

Ein Mann mit Brille mit dunkler Fassung, hoher Stirn und kurzen Haaren. Er trägt ein hellblaues Hemd und ein Jackett.
Bild: privat
Marc Wischnowsky

Dr. Marc Wischnowsky ist Superintendent im Kirchenkreis Stade.

Biblischer Text,
Markusevangelium 12,28–34
Und es trat zu ihm einer der Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? Jesus antwortete: Das höchste Gebot ist das: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft“ (5. Mose 6,4–5). Das andre ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Ja, Meister, du hast recht geredet! Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. Da Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.
Marc Wischnowsky