Jeden Tag bewusst leben

Andacht zum Ewigkeitssonntag
ein Friedhofsweg im Herbstlicht. Die Sonne scheint auf den Weg, rechts und links sind Gräber und Bäume

Der Autor

Jakob Kampermann
Bild: privat
Jakob Kampermann

Jakob Kampermann ist Pastor und Mitglied der Evangelischen Medienarbeit (EMA) der Landeskirche Hannovers. 

Wach sein. Lauschen, horchen auf das kleinste Geräusch. Verändert sich der Atem? Muss ich etwas tun? Werde ich gebraucht? Bald ist schon wieder Zeit für die nächste Medikamentengabe.

Wachen an einem Kranken- und Sterbebett kostet Kraft. Viele, die Angehörige daheim gepflegt haben, wissen es aus eigener Erfahrung. Sie kennen auch die Angst, etwas zu verpassen und in einem entscheidenden Moment nicht da zu sein. Viele trauen sich deshalb kaum noch aus dem Haus zum Einkaufen.

Wach sein. Die Gedanken drehen sich im Kreis. Der Schlaf will nicht kommen, nur die immer gleichen Fragen. Habe ich etwas übersehen? Hätte ich mehr tun können? Aufmerksamer sein müssen?

Wer nach dem Tod eines geliebten Menschen plötzlich allein ist, findet oft keinen Schlaf. Das leere Bett nebenan ist kaum zu ertragen. Die Stille dröhnt in den Ohren. Man sehnt sich zurück nach dem Wachsein, das Aktivität bedeutet hat, etwas zu tun zu haben. Ein Kissen aufschütteln, ein Glas Wasser holen, einen Kuss auf die Stirn drücken.

Schlafen täte jetzt gut, schlafen und vergessen, für ein paar Stunden den Schmerz, die Trauer und Verzweiflung nicht spüren. Schlafen und ausruhen und am liebsten selbst nicht wieder aufwachen, so sagen es viele im ersten Schmerz.

Aber das Leben geht weiter. Nur – wie kann es jetzt weitergehen, ohne den geliebten Menschen? Es scheint alles so sinnlos. Was bleibt mir denn noch? „Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen.“

Mitten im Vergänglichen etwas Unvergängliches aufleuchten zu sehen, das gelingt, wenn auch das Zweite gehört wird, was Jesus sagt – was er den Zuhörenden eindringlich einschärft: Bleibt wach! Bleibt aufmerksam für Euer eigenes Leben und für das Leben Eurer Mitmenschen. Nehmt sie wahr, die Lebenszeichen, die sie Euch schgenken. Hört die Worte, die sie Euch sagen. Vielleicht ist genau das eine dabei, das mitten ins Herz trifft, das Euch tröstet und neue Hoffnung schenkt. Ein Wort ewigen Lebens.

Bleibt wach, weil Ihr noch eine Aufgabe habt im Leben. Wach sein, mit wachen Sinnen leben! Das Leben sehen, riechen, schmecken und tasten und fühlen. Aufmerksam sein für die eigenen Bedürfnisse wie die der anderen, Partner, Kinder, Freundinnen. Jeden Tag bewusst leben und erleben.

Oft lässt gerade die Nähe des Todes Menschen in neuer Weise wach sein. Kleine Freuden, Alltägliches, werden zum großen Geschenk. Ein Spaziergang im herbstlichen Wald. Der Duft von blühendem Flieder. Der Geschmack von Birnen.

Wach-Sein. Das Sterben, das wir miterleben, kann ein Weckruf sein, der auch andere wachrüttelt und neu aufmerksam macht für das kostbare und zerbrechliche Leben, das uns geschenkt ist. Wir sollen es nicht verschlafen, sondern wach und mit allen Sinnen und allen Fasern unseres Herzens leben.

Amen.

Der Autor

Jakob Kampermann
Bild: privat
Jakob Kampermann

Jakob Kampermann ist Pastor und Mitglied der Evangelischen Medienarbeit (EMA) der Landeskirche Hannovers. 

Markusevangelium,
13, 28 - 37
An dem Feigenbaum aber lernt ein Gleichnis: Wenn seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, so wisst Ihr, dass der Sommer nahe ist. Ebenso auch, wenn Ihr seht, dass dies geschieht, so wisst, dass er nahe vor der Tür ist. Wahrlich, ich sage Euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht.
Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen. Von jenem Tage aber oder der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.
Seht Euch vor, wachet! Denn Ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.
Es ist wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und gebot dem Türhüter, er sollte wachen: So wacht nun; denn Ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen, somit er Euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt. Was ich aber Euch sage, das sage ich allen: Wachet!
Jakob Kampermann